Wenn Schüler auffällig langsam rechnen, viele Fehler machen oder neu Gelerntes immer wieder vergessen, so stellt sich die Frage, ob bei ihnen eine Rechenschwäche vorliegt. Um sich hier Gewissheit zu verschaffen, reicht allerdings die Feststellung, dass ihnen bestimmte Aufgaben große Schwierigkeiten bereiten, noch keinesfalls aus. Eine Rechenschwäche lässt sich nur dann mit Sicherheit feststellen oder aber ausschließen, wenn wir das individuelle Profil dieser Leistungsschwierigkeiten sorgfältig untersuchen. Dies verlangt zweierlei:
- Zum einen die Herausarbeitung der individuellen Vorstellungen über Mengen, Zahlen und Rechenoperationen sowie der Strategien, die zu solchen Fehlern führen.
- Dabei sind zweitens all jene mathematischen Kompetenzbereiche zu untersuchen, deren positive Beherrschung für die Bewältigung aktueller Lern- und Leistungsanforderungen erforderlich ist. Da eine Rechenschwäche in einem unzureichend entwickelten Verständnis für elementare Eigenschaften der Mengen, Zahlen und Rechenoperationen besteht, sind diese Kompetenzbereiche in ihrem Zusammenhang in die Untersuchung einzubeziehen.
Notwendig ist also die Rekonstruktion des subjektiven Gebäudes mathematischer Vorstellungen und Fertigkeiten des Schülers - beginnend mit den elementaren Grundlagenkenntnissen bis hin zu jenen Themenbereichen, mit denen er sich im derzeitigen (Schul-)Alltag konfrontiert sieht.
Damit ist die Aufgabenstellung einer Entwicklungsdiagnostik im mathematischen Leistungsbereich umschrieben, die zugleich besondere Ansprüche an das Vorgehen und die Verfahrensweisen stellt (=> Diagnoseverfahren).
Um zielgerichtete und wirksame Hilfestellungen zu entwickeln, muss zunächst die individuelle Lernausgangslage geklärt werden. Dies ist die Aufgabe der Eingangsdiagnostik. Sie hat die folgenden Fragen zu beantworten:
- Wie sieht das individuelle Profil der Schwierigkeiten und Schwächen, der Ressourcen und Stärken aus?
- Liegt eine Rechenschwäche vor?
- Welche Zielsetzungen und Ansatzpunkte für eine wirksame Förderung sind zu erkennen
Teilbereiche der Diagnostischen Untersuchung
Entwicklungsstand im Bereich der mathematischen Kompetenz
- Subjektive Vorstellungen, Strategien und Fertigkeiten in altersrelevanten Teilbereichen der mathematischen Kompetenz
- Leistungsmotivation
- Lern- und Arbeitsverhalten
- Auffälligkeiten in
neuropsychologischen Teilleistungen (visuelle oder auditive
Wahrnehmung, Räumliche Vorstellung, Gedächtnis etc.),
soweit sie sich
im Vollzug von Rechenoperationen und Lösungsprozessen auswirken
Allgemeines
Leistungsvermögen
Lebensgeschichtlicher Verlauf und allgemeine Lebenssituation
- Körperliche und gesundheitliche Entwicklung
- Schulische Entwicklung und derzeitige schulische Situation
- Besondere
Belastungen und ihre Auswirkungen (u.a. familiäre
Schwierigkeiten)
Persönlichkeit und emotionale Belastungssituation
- Besondere Interessen und Neigungen
- Auffälligkeiten im emotionalen Bereich (Ängste, Aggressives Verhalten usw.)
- Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen
- Soziales Verhalten
Qualitative Mathematikdiagnostik
Herkömmliche Verfahren der Leistungsmessung im mathematischen Lernbereich, seien es nun Klassenarbeiten oder psychometrische Tests, sind nicht geeignet, das Vorliegen einer Rechenschwäche zuverlässig festzustellen. Zum einen konzentrieren sie sich einseitig auf die Ergebnisse des Rechnens. Diese lassen aber keine eindeutigen und zuverlässigen Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden Kompetenzen zu. Zum anderen beziehen sie sich in der Regel nur auf einen eng umgrenzten Teilausschnitt innerhalb des Gebäudes der aufeinander aufbauenden mathematischen Kompetenzbereiche.
Im Zusammenwirken von Entwicklungspsychologie und Mathematikdidaktik sind demgegenüber Diagnoseverfahren entwickelt worden, die direkt auf die Feststellung einer Rechenschwäche ausgerichtet sind. Sie bleiben nicht bei der Erfassung der (richtigen oder falschen) Ergebnisse des Rechnens stehen, sondern wenden sich dem Prozess des Rechnens und den subjektiven Vorstellungen und Strategien des Lernenden zu. Das Vorgehen orientiert sich an dem Verfahren des Klinischen Interviews, das ursprünglich durch den Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget begründet wurde. Die individuellen Vorstellungen und Strategien werden dabei auf dem Wege eines diagnostischen Dialogs über ausgewählte Aufgabenstellungen und Lernvorgaben herausgearbeitet und erfasst. Die Integration anderer Methodenelemente (Methode des lauten Denkens, Verhaltensbeobachtung und die gezielte Variation der Aufgabenstellung) sichert die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Untersuchungsergebnisse. Wesentlicher Bestandteil ist darüber hinaus eine Aufgabensammlung, die geeignet ist, (a) die für eine bestimmte Altersgruppe zentralen Teilbereiche der mathematischen Kompetenz abzudecken, (b) Vertiefungen zu ermöglichen und gleichzeitig (c) unterschiedliche Repräsentationsformen berücksichtigt.
Die Auswertung erfolgt auf dem Wege einer qualitativen Inhaltsanalyse, die sich u.a. auf mathematikdidaktische Untersuchungen zu charakteristischen Fehlertypen stützt.
Das Institut für Mathematisches Lernen setzt zur Zeit mehrere Diagnoseverfahren ein, die sich an dem Vorgehen des klinischen Interviews orientieren:
- Hamburger Diagnostisches Inventar Mathematik (HADIMA). Hierbei handelt es sich um ein Diagnoseverfahren, das aufbauend auf langjährige Erfahrungen und Vorarbeiten im Bereich der Diagnose mathematischer Entwicklungs- und Lernschwierigkeiten innerhalb unserer Einrichtung entwickelt wurde.
- Qualitative Diagnostik Rechenschwäche im Grundlagenbereich Arithmetik (QUADRIGA). Dieses Verfahren wurde von M. Wehrmann im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Humboldt-Universität zu Berlin entwickelt.